Irving, John - Königin Esther

John Irving erzählt in Königin Esther die Geschichte der jüdischen Waise Esther Nacht, die Anfang des 20. Jahrhunderts aus Wien nach Amerika kommt und im Waisenhaus von St. Cloud’s landet – einem Ort, den Irving-Leser aus Gottes Werk und Teufels Beitrag kennen. Von dort spannt sich ihr Leben über Jahrzehnte, über verschiedene Länder und Generationen hinweg. Es geht um Zugehörigkeit, Schuld, Identität und das Überleben in einer Welt, die einem selten Heimat bietet.

Der Roman wirkt zunächst wie ein klassischer Irving: eine Mischung aus Melodram, Schicksal, schwarzem Humor und moralischer Dringlichkeit. Seine Figuren sind exzentrisch und berührend, die Sprache gewohnt detailreich. Besonders Esthers frühe Jahre, ihr Versuch, in der puritanischen Neuengland-Gesellschaft einen Platz zu finden, gehören zu den stärksten Momenten des Buches.

Doch je weiter die Geschichte voranschreitet, desto mehr verliert sich Irving in Nebensträngen und historischen Exkursen. Die Erzählung zerfasert, und Esthers eigene Stimme rückt immer wieder in den Hintergrund. Man spürt den großen Willen, ein Jahrhundert und seine Wunden zu fassen – aber manchmal steht die Konstruktion dem Gefühl im Weg. Auch die Verbindung zum vertrauten Waisenhaus-Kosmos wirkt eher wie ein Echo vergangener Romane als wie eine neue Entdeckung.

Trotz dieser Schwächen bleibt Königin Esther ein lesenswerter, ambitionierter Spät-Irving: ein Buch über Erinnerung, Herkunft und moralische Verantwortung – nur weniger kraftvoll als seine großen Vorgänger wie Garp oder Owen Meany. Wer Irving mag, wird seine Handschrift lieben; wer eine straffe, wirklich mitreißende Familiengeschichte sucht, könnte etwas Geduld brauchen.

Fazit: ein bewegendes, aber stellenweise überfrachtetes Alterswerk – mit glanzvollen Momenten, doch ohne den erzählerischen Atem, der Irvings frühere Romane unvergesslich machte.

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