Grün, Anselm - Widerstehen und Wachsen 

  Anselm Grün legt mit Widerstehen und Wachsen einen spirituellen Ratgeber vor, der sich den „Dämonen“ unserer Zeit widmet – nicht als Individuen, sondern als Kräfte, die unser Leben und unsere Gesellschaft beeinflussen. Besonders positiv habe ich erlebt, dass das Buch nicht nur Missstände aufzeigt, sondern konsequent die Fähigkeit zur Resilienz stärken möchte. Es geht darum, trotz Widrigkeiten innerlich stabil zu bleiben, sich wohlzufühlen, Dankbarkeit zu üben und immer wieder die Kunst des Aufrichtens einzuüben. Widerstand wird hier nicht als Kampf voller Zorn verstanden, sondern als Haltung, die von Liebe, Gelassenheit und Hoffnung geprägt ist.

Grün zeigt dabei eindrücklich, dass Resilienz nicht nur eine psychologische Kategorie ist, sondern tief spirituell verwurzelt werden kann. Er benennt die „modernen Dämonen“ – wie Zorn, Spaltung, überbordende Kommunikation oder den allgegenwärtigen Leistungsdruck. Es sind keine Einzelfiguren, sondern Kräfte, die in unser Leben hineinwirken und uns schwächen können. Gerade diese Sichtweise macht sein Buch besonders, weil sie das Persönliche mit dem Gesellschaftlichen verknüpft.

Was mir sehr gefallen hat, ist die Vielfalt an Vorschlägen, wie man inneren Widerstand aufbauen kann: etwa durch Achtsamkeit im Umgang mit Medien, durch bewusstes Begrenzen des Egos, durch die Pflege von Mitgefühl und durch die Haltung der Dankbarkeit. Auch wenn nicht alle Gedanken neu sind – manches kennt man aus anderen spirituellen oder psychologischen Ratgebern –, bietet Grün wertvolle Impulse, die den Leser ermutigen, im Alltag kleine Schritte zu gehen und sich den negativen Einflüssen nicht einfach hinzugeben.

Sein Ton bleibt durchgehend ermutigend: kein moralischer Zeigefinger, sondern ein  hoffnungsvoller Blick nach vorne. Genau das macht das Buch zu einem Begleiter, den man gerne zur Hand nimmt. Für mich war es ein schönes und hilfreiches Buch, das ich gerne weiterempfehlen würde – gerade, weil es aufzeigt, dass Widerstand und Wachstum Hand in Hand gehen können.

 Bradley, Kimberly Brubaker - Über mir der weite Himmel 

  Über mir der weite Himmel hat mich tief berührt – nicht nur, weil es eine spannende Geschichte erzählt, sondern weil es so eindringlich zeigt, wie ein junges Mädchen trotz aller Verletzungen und Unsicherheiten neue Wege ins Leben findet.

Wir begegnen wieder der elfjährigen Ada, die wir schon aus dem ersten Band kennen. 1943 lebt sie mit ihrem Bruder Jamie auf dem Land bei ihrer Pflegemutter Susan. Doch Ada hat in ihrem bisherigen Leben kaum Liebe erfahren, und so fällt es ihr schwer, Zuneigung überhaupt zu spüren oder gar zu vertrauen. Diese Kluft macht das Buch so bewegend: Wir sehen ein Kind, das eigentlich geliebt wird, das diese Wärme aber kaum zulassen kann, weil die alten Wunden noch so tief sind.

Gerade diese Feinfühligkeit im Erzählen hat mich beeindruckt. Kimberly Brubaker Bradley schafft es, die großen Themen – Trauma, Verlust, Resilienz – so klar in die kindliche Perspektive zu legen, dass man Ada sofort nah ist. Es geht nicht nur um den Krieg als Hintergrund, sondern um den inneren Kampf eines Mädchens, das lernen muss, aus der Welt der Unsicherheiten und Trauer herauszutreten. Die Menschen um sie herum – Susan, aber auch andere Wegbegleiter – helfen ihr dabei Schritt für Schritt. Es ist ein Roman darüber, wie Beziehungen heilen können, selbst wenn man lange nicht daran glaubt.

Die Emotionalität ist kaum zu übersehen: Ich habe beim Lesen oft mit Ada mitgefühlt – ihren Zorn, ihre Angst, ihre zaghaften Hoffnungen. Und zugleich ist die Geschichte durchdrungen von einer stillen Hoffnung und Stärke.

Über mir der weite Himmel ist ein ergreifendes, eindringliches Buch, das lange nachhallt. Es erzählt von der Kraft, sich immer wieder aufzurichten, auch wenn man an sich selbst zweifelt. Ich empfehle es nicht nur Kindern, sondern ganz besonders auch erwachsenen Lesern die sich von einer Geschichte voller Schmerz, Hoffnung und Lebensmut berühren lassen wollen.

 Bacigalupi, Paolo - Navola

  Paolo Bacigalupi entwirft in Navola ein prunkvolles Setting, das von Handel, Macht und Intrigen bestimmt wird. Die mächtige Bankiersfamilie di Regulai steht im Zentrum des Geschehens, allen voran der Erbe Davico, der zwischen Verantwortung, politischen Spielen und den Erwartungen seines Vaters zerrieben zu werden droht. Hinzu kommt ein geheimnisvolles Artefakt, das Drachenauge, das eine mystische Dimension in die Handlung einbringt.

Die größte Stärke des Romans liegt für mich eindeutig in den Intrigen und Machtspielen. Bacigalupi gelingt es, die politischen Verwicklungen einer Stadt darzustellen, voller List, Betrug und taktischen Manövern. Gerade die vielen Wendungen haben mich fasziniert: immer, wenn man dachte, den nächsten Schritt der Figuren zu kennen, änderte sich das Spiel und eröffnete neue Perspektiven. Diese Spannung, die aus den Machtkämpfen entsteht, hat den Roman für mich getragen.

Die magischen Elemente, insbesondere das Drachenauge, waren für mich weniger interessant. Sie wirkten wie ein zusätzliches Stilmittel, das die Geschichte zwar bereichern sollte, aber für meinen Lesegeschmack nicht so fesselnd war wie die politischen Aspekte. Außerdem ist das Buch extrem detailreich – Bacigalupi beschreibt minutiös Politik, Gesellschaft, Schauplätze und Figuren. Das ist handwerklich beeindruckend, wirkte für mich aber stellenweise zu ausschweifend. Ich hätte mir eine straffere Erzählweise gewünscht. Das verlangsamte Tempo machte die Lektüre anstrengend, und man braucht tatsächlich viel Geduld, um sich durch die über 800 Seiten zu arbeiten.

Navola ist ein intensiver Fantasyroman, der mit seiner dichten Atmosphäre, den vielen Wendungen und vor allem den politischen Intrigen glänzt. Wer Freude daran hat, sich in eine komplexe Welt voller Machtspiele hineinzudenken, wird reich belohnt. Wer aber eine temporeiche Fantasy-Geschichte mit stärkerem Fokus auf Abenteuer oder Magie erwartet, wird hier eher weniger glücklich.

 Stadsbjerg, Caroline - Carnivora

  Caroline Stadsbjergs Roman Carnivora entwirft eine dystopische Zukunft, in der Tiere ausgestorben sind und die Menschheit eine verstörende Alternative gefunden hat: Für die Fleischproduktion wird eine menschenähnliche Spezies, der Homo cibus, gezüchtet – nicht als Individuum, sondern als Ware. Im Zentrum steht Hannah, eine scheinbar gewöhnliche Frau, die in ihrem Alltag plötzlich mit den brutalen Mechanismen dieser Gesellschaft konfrontiert wird. Als Schülerinnen verschwinden und die grausame Normalität immer brüchiger wird, muss sie Stellung beziehen.

Der thematische Schwerpunkt liegt klar auf der Ethik des Konsums. Die Parallele zur realen Tierindustrie ist dabei offensichtlich – und gerade in dieser Zuspitzung liegt die große Stärke des Buches. Auch Fragen nach Menschlichkeit, Empathie und Schuld ziehen sich wie ein roter Faden durch die Handlung.

Mich persönlich hat das Thema regelrecht geschockt. Die Vorstellung, menschenähnliche Wesen wie Nutztiere zu behandeln, ist grausam und gruselig zugleich. Genau diese Bildhaftigkeit, die Stadsbjerg in oft nüchterner, fast klinischer Sprache schildert, verstärkt den Effekt. Die Kälte der Sprache kontrastiert mit dem Grauen der Bilder – und gerade dadurch bleibt die Lektüre so eindringlich.

Das Buch hat unbestreitbare Stärken:
Die klare, präzise Sprache, die schonungslos wirkt.
Die konsequente Gesellschaftskritik, die weit über die Fiktion hinausreicht.
Die Fähigkeit, die Leser nicht loszulassen, sondern zu verstören und zum Nachdenken zu zwingen.

Für mich war Carnivora ein schwer verdauliches, aber absolut notwendiges Buch. Es ist unbequem, es schockiert – und gerade deshalb entfaltet es seine Wirkung. Es gehört zu den Geschichten, die man nicht einfach zuschlägt und vergisst, sondern die nachhallen und zu einer Auseinandersetzung zwingen, die über das Lesen hinausgeht.

 Lechner, Martin - Die Verwilderung

  Martin Lechners neuer Roman Die Verwilderung hat mich beim Lesen lecht verstört. Erzählt wird die Geschichte der jungen Marlies, die kurz vor dem Abitur steht und den Sommer bei ihrer Großmutter verbringen soll. Eigentlich soll sie herausfinden, ob sie das Haus erbt – doch viel entscheidender ist, dass sich ihre linke Hand in etwas Unheimliches verwandelt: eine Klaue, die nicht mehr zu ihr passt und sie zugleich definiert. Schon in dieser Grundidee steckt die ganze Kraft des Romans: das Groteske als Metapher für das Außenseitertum, für Scham und für die schmerzhafte Selbstwahrnehmung einer Heranwachsenden.

Sehr stark fand ich die Szenen mit der Großmutter. Hier prallen Generationen aufeinander: Lebensweisheit und Skurrilität, Härte und Wärme. Gerade dieser Generationskonflikt trägt viel dazu bei, dass der Roman nicht nur eine persönliche Geschichte bleibt, sondern auch gesellschaftliche Fragen aufwirft.

Ein zentrales Thema ist die Scham: Marlies schämt sich für ihre Noten, ihre Unsicherheit, ihre Klaue. Lechner beschreibt eindrücklich, wie Scham das Selbstbild deformieren kann.
 Lechner schreibt bildreich, manchmal fast überbordend. Er hat eine Lust an Metaphern, die die groteske Grundidee noch stärker wirken lässt. Seine Sprache wirkt dicht, und manchmal poetisch. An einigen Stellen verliert sich der Text in sprachlichen Schleifen, die die Handlung ins Stocken bringen.

Das führt auch zu einer Schwäche des Romans: Nicht alles ist immer stimmig. Manche surrealen Wendungen wirken überzogen, manche Szenen dehnen sich zu sehr. Wer einen klaren, linearen Erzählstrang erwartet, wird hier vermutlich ungeduldig.

Es ist ein Coming-of-Age-Roman, aber keiner der leichten Sorte. Er erzählt von Außenseitertum, Scham, Generationenkonflikten und dem mühsamen Weg zur Selbstakzeptanz.

 

 Dabos, Christelle - Die Spur der Vertrauten

  Christelle Dabos entwirft in ihrem neuen Roman Die Spur der Vertrauten eine düstere Dystopie, in der das Wir über allem steht und das Ich keinen Platz hat. Individualität und Persönlichkeit sind ausgelöscht, stattdessen herrschen Konformität, Überwachung und ständiger Gruppendruck.

Die Handlung setzt bei den beiden Protagonisten an: Claire, Schülerin der Schule der Vertrauten, und Goliath, der kurz davorsteht, ein Tugendhafter zu werden. Gemeinsam beginnen sie, dem Verschwinden eines Mitschülers nachzugehen – eine Suche, die schnell zu einem gefährlichen Spiel wird und tief in die Strukturen dieser gleichgeschalteten Gesellschaft führt.

Dabos greift dabei große Themen auf: die Unterdrückung des Individuums, den Verzicht auf Persönlichkeit zugunsten der Gemeinschaft, die Macht der Überwachungssysteme und die philosophische Frage, wieviel Menschsein ohne „Ich“ überhaupt möglich ist. Diese Ideen verleihen der Geschichte eine nachdenkliche und leicht mysteriöse Atmosphäre.

Allerdings kommt der Roman nur langsam in Fahrt. Auf über 640 Seiten entfaltet sich eine komplexe, detailreiche Welt, doch gerade zu Beginn fehlte mir das gewisse Etwas – Spannung und Sogkraft bleiben zunächst zurückhaltend. Im weiteren Verlauf steigert sich die Handlung, und wer sich auf die Länge einlässt, wird mit einer sorgfältig durchdachten Dystopie belohnt.

Stilistisch und thematisch weist Die Spur der Vertrauten viele typische Merkmale des Genres auf, was für Fans vertraut und angenehm sein dürfte, zugleich aber wenig Überraschungen bietet. Für mich war es kein literarisches Highlight, sondern eher ein solider Roman, der durch seine Themen und seine philosophische Tiefe punktet, ohne wirklich zu glänzen.

Alles in allem , ein interessantes, nachdenkliches Buch mit wichtigen Fragen zu Identität, Gemeinschaft und Kontrolle. Für Liebhaber dystopischer Welten lohnend, wenn man Durchhaltevermögen mitbringt – aber nicht unbedingt ein Werk, das lange nachhallt.

 Piuk, Petra - Hotel Love

  Petra Piuks Roman Hotel Love entwirft ein düster-groteskes Zukunftsszenario, das gleichermaßen fasziniert wie verstört. In einer Welt, in der eine Männerpartei das Sagen hat, sind Frauenrechte abgeschafft – Macht und Kontrolle liegen einzig in männlicher Hand.

Im Zentrum steht das Hotel Love, und die Tatsache,  dass die Männer sich nach Belieben ihre perfekte Partnerin zusammenstellen können: eine KI-Frau, maßgeschneidert bis ins kleinste Detail. Alles ist möglich, die Illusion von Liebe programmierbar. Für den Protagonisten Roman, der seine Ex-Frau nicht überwinden kann, bedeutet dies ein vermeintliches Glück: Er erschafft eine täuschend echte Kopie von Julia – der Frau, die ihn verlassen hat. Doch seine Besessenheit kippt bald ins Abgründige, denn auch die künstlich perfekte Julia kann niemals die echte ersetzen.

Piuk zeichnet diese Welt mit einem bitterbösen, schwarzen Humor, der die Lektüre gleichzeitig unterhaltsam und verstörend macht. Manchmal geht dieser Humor bis an die Grenze des Erträglichen – und genau darin liegt seine Wirkung. Der Roman ist grotesk, überdreht, und dennoch so nah an aktuellen Diskursen über KI, Machtverhältnisse und Geschlechterpolitik, dass man sich unwillkürlich fragt: Wie weit sind wir eigentlich noch von diesem Szenario entfernt?

Besonders gelungen ist die satirische Zuspitzung der Thematik.

Hotel Love ist damit mehr als nur eine schräge Zukunftsgeschichte. Es ist ein Spiegel unserer Gegenwart, ein literarisches Experiment voller Groteske, Schärfe und bitterer Satire. Petra Piuk gelingt es meisterhaft, ein erschreckendes, aber hochgradig unterhaltsames Bild einer möglichen Welt zu entwerfen.
Absolute Leseempfehlung für alle, die sich von Literatur nicht nur unterhalten, sondern auch herausfordern lassen wollen.

 Atkins, Dani - Versprich mir, dass du tanzt

  Dani Atkins ist bekannt für gefühlvolle Romane – und auch ihr neuer Roman Versprich mir, dass du tanzt reiht sich nahtlos in dieses Werk ein. Schon die ersten Seiten sind voller Emotionen und nehmen die Lesenden unmittelbar mit in eine Geschichte über Liebe, Verlust und Neubeginn.

Im Mittelpunkt stehen Lily und Josh. Die beiden verbindet eine tiefe Freundschaft, die schon in ihrer Jugend wie eine erste Liebe wirkt. Doch das Leben hinterlässt Spuren und ihre Beziehung bekommt Risse. Erst ein schwerer Schicksalsschlag bringt sie wieder enger zusammen. Atkins erzählt von Trauer, Krankheit und Tod – doch sie stellt diesen schweren Themen immer Hoffnung, Vergebung und die Chance auf einen neuen Anfang gegenüber.

Die Figuren sind nachvollziehbar gezeichnet, besonders Lily berührt mit ihrer Mischung aus Stärke und Verletzlichkeit. Josh wirkt zunächst verschlossen, doch gerade das macht seine Entwicklung interessant.

Der Schreibstil ist wie gewohnt flüssig, leicht verständlich und dabei sehr eindringlich. Atkins schafft es, große Gefühle in einfachen Worten greifbar zu machen – und bewegt damit zutiefst.

Versprich mir, dass du tanzt ist eine emotionale und eindrucksvolle Geschichte, die zum Weinen rührt, aber auch Hoffnung schenkt. Wer gerne tiefgründige Liebesromane liest, findet hier eine Autorin, die ihr Handwerk versteht.

Kuang, Rebecca F. - Katabasis

Willkommen in der Hölle – und das im wahrsten Sinne des Wortes. Rebecca F. Kuang entführt ihre Leserinnen und Leser mit Katabasis in eine vielschichtige, düstere Welt, die ebenso philosophisch wie literarisch anspruchsvoll ist.

Der Roman ist komplex und von einer starken Bildhaftigkeit geprägt. Schon die ersten Seiten verlangen volle Konzentration, denn der Text ist gespickt mit Fachbegriffen und Fremdwörtern, die den philosophischen Unterbau verdeutlichen, gleichzeitig aber die Lektüre herausfordernd machen. Wer leichte Unterhaltung erwartet, wird hier enttäuscht sein – dieses Buch verlangt und verdient Aufmerksamkeit.

Nach einer gewissen Eingewöhnungsphase jedoch entfaltet sich eine fesselnde Geschichte, deren Tiefe und Vielschichtigkeit beeindrucken. Besonders gelungen sind die Rückblenden, die die Beziehungen zwischen den Protagonisten aufschlüsseln und so emotionale Nähe schaffen. Auch die Passagen über die einzelnen Teile der Hölle wirken eindrucksvoll und zeugen von der Detailfreude der Autorin.

Kuangs Schreibstil ist ausführlich, ausschweifend und durchzogen von einer philosophischen Grundhaltung. Das ist nicht immer leicht, doch wer sich darauf einlässt, entdeckt ein außergewöhnliches Werk, das mehr bietet als reine Fantasy. Katabasis ist ein anspruchsvoller Roman, der das Denken herausfordert, gleichzeitig aber mit seiner Intensität und Atmosphäre belohnt.

 Boyne, John - Erde

  Mit Erde legt John Boyne den zweiten Band seines Element-Zyklus vor – einer Reihe von unabhängigen Romanen, die nur durch Motive und Schauplätze lose miteinander verbunden sind. Nach Wasser steht diesmal das Element Erde im Mittelpunkt, und wieder spielt die Handlung zum Teil auf einer kleinen irischen Insel, wo schon der Roman Wasser sich abgespielt hat.

Im Zentrum der Geschichte steht Evan, ein international gefeierter Fußballstar. Von außen betrachtet verkörpert er den Traum vieler: Ruhm, Geld und Anerkennung. Doch hinter der glänzenden Fassade verbirgt sich ein äußerst sensibler, zurückhaltender Mensch, der von einer schwierigen Vergangenheit geprägt ist. Seine Kindheit war von familiären Konflikten, insbesondere mit seinem Vater, überschattet. Auch seine Homosexualität, die für Evan sowohl eine Quelle der Selbstfindung als auch der Verunsicherung ist, durchzieht die Handlung als bedeutendes Thema.

Die erzählerische Struktur des Romans wechselt zwischen der Gegenwart – dominiert von einer aufwühlenden Gerichtsverhandlung um einen Vergewaltigungsprozess, in den Evan verstrickt ist – und Rückblenden, die Stück für Stück seine Lebensgeschichte offenlegen. Diese Passagen sind oft schwer auszuhalten: Sie zeigen ein Leben voller Schmerz, Identitätskrisen und emotionaler Brüche. Gerade diese Kontraste machen den Roman so intensiv und erschütternd.

Boyne gelingt es, menschliche Abgründe mit großer Empathie und sprachlicher Feinfühligkeit darzustellen. Erde ist kein leichtes Buch, sondern ein tiefsinniger, emotionaler Roman, der beim Lesen an die Grenzen der eigenen Belastbarkeit führen kann. Er zwingt dazu, über Themen wie Schuld, Identität, Trauma und das Suchen nach dem eigenen Platz in der Welt nachzudenken.

Erde ist ein kraftvoller, bedrückender und zugleich berührender Roman, der lange nachhallt. Wer literarische Geschichten voller Tragik, psychologischer Tiefe und gesellschaftlicher Relevanz sucht, wird hier fündig. Eine klare Empfehlung – allerdings für Leserinnen und Leser, die bereit sind, sich auf schwere, nachdenklich stimmende Themen einzulassen.

 Yarros, Rebecca - Variation – Für immer oder nie

Für immer oder nie“ war mein erster Roman von Rebecca Yarros. Aufgrund der vielen positiven Stimmen und ansprechenden Rezensionen war ich neugierig auf diese Liebesgeschichte – leider konnte das Buch meine Erwartungen nicht ganz erfüllen.

Im Mittelpunkt steht Allie, eine erfolgreiche Ballerina, die auf dem Höhepunkt ihrer Karriere steht, bis eine Verletzung sie zum unfreiwilligen Ruhestand zwingt. Geprägt von einer toxischen Mutter und dem Verlust ihrer Schwester wirkt Allie auf den Leser oft unglücklich und zerrissen. Während ihrer Erholung begegnet sie Hudson wieder – einem Mann, den sie einst geliebt hat, und dessen Leben sich nun um die kleine Juniper dreht, die ihre leibliche Mutter sucht.

Yarros gelingt es, die harte, faszinierende Welt des Balletts lebendig einzufangen. Diese Einblicke in Training, Disziplin und Opferbereitschaft haben mir besonders gut gefallen. Auch die Grundidee der zweiten Chance in der Liebe hat Potential.

Allerdings zieht sich die Handlung über weite Strecken. Mit fast 600 Seiten bietet die Geschichte zwar viele tragische und dramatische Momente, dreht sich jedoch oft im Kreis, sodass die emotionale Entwicklung für mich nicht richtig in Fahrt kommt.

Insgesamt ist „Für immer oder nie“ ein gut lesbarer Roman mit schönen Ansätzen, aber kein Highlight. Wer sich für das Thema Ballett interessiert und eine dramatische Liebesgeschichte sucht, würde Freude daran haben.

 James, Riley - Die Kälte

  Mit Die Kälte legt Riley James einen atmosphärisch dichten Roman vor, der die Leserinnen und Leser mitten in die lebensfeindliche Natur der Antarktis versetzt. Die Kälte, das Eis und die allgegenwärtige Gefahr prägen die Geschichte von Beginn an und schaffen eine düstere, bedrohliche Stimmung, die bis zum Ende anhält.

Im Zentrum der Handlung steht Kit, eine Frau, die inmitten einer schmerzhaften Scheidung ihr altes Leben hinter sich lassen möchte. Verraten von ihrem Ehemann und auf der Suche nach einem Neuanfang, gelingt es ihr, als medizinische Assistentin an einer Expedition in die Antarktis teilzunehmen. Zusammen mit einer Freundin begibt sie sich in die extreme Kälte – voller Spannung, Hoffnung und der Sehnsucht, endlich entfliehen zu können.

Kurz vor der Ankunft erreichen sie jedoch unerwartete Hilferufe: Ein nahegelegenes Schiff hat ein Notfallproblem. Was als Rettungsaktion beginnt, entwickelt sich zu einem mysteriösen Albtraum. Das Schiff ist verwüstet, die Crew wie vom Erdboden verschluckt. Nur eine einzige überlebende Person wird gefunden – ohne Erinnerung daran, was geschehen ist.

Riley James gelingt es, eine beklemmende Atmosphäre zu erschaffen, die die Gefährlichkeit der Natur greifbar macht.

McEwan, Ian - Was wir wissen können

  Ian McEwan verbindet in Was wir wissen können Vergangenheit und Zukunft zu einem vielschichtigen Roman über Erinnerung, Verlust und die Fragilität von Wissen. Ausgangspunkt ist ein Gedicht, das 2014 einmalig vorgetragen und danach nie wieder gefunden wurde. Jahrzehnte später sucht der Literaturwissenschaftler Tom Metcalfe im Jahr 2119 in einer von Klimakatastrophen veränderten Welt nach Spuren dieses verschollenen Textes.

McEwan zeigt, wie kleine und scheinbar banale Details aus der Vergangenheit in der Zukunft plötzlich kostbar erscheinen. Die Handlung trägt kriminalistische Züge, doch wichtiger ist die Reflexion: Was bleibt von Kunst, Kultur und Leben, wenn Archive zerfallen und Erinnerungen verblassen?

Der Roman ist melancholisch und tief nachdenklich zugleich. Er lässt die Leser über die eigene Gegenwart grübeln: Was wird von unserer Welt in hundert Jahren übrig sein – und was werden wir niemals wissen können?
Trotz der intellektuellen Brillanz und der spannenden Grundidee hat mich der Roman insgesamt etwas enttäuscht. Ich empfand ihn stellenweise als langatmig, mit vielen verschachtelten Sätzen, die das flüssige Lesen erschwerten. Auch der Bezug zur Zukunft, den ich mir stärker und prägnanter gewünscht hätte, bleibt eher vage und kommt nur am Rande zum Tragen. Statt eines runden, erzählerisch geschlossenen Romans wirkt Was wir wissen können fragmentarisch, experimentell und stellenweise zerfasert, eher ein literarisches Gedankenspiel, das seinen Reiz hat.

 Moritz, Rainer - Das Jahr in Büchern

  Rainer Moritz, renommierter Literaturwissenschaftler hat mit Das Jahr in Büchern ein Werk geschaffen, das literarische Vielfalt und Lesefreude auf wunderbare Weise vereint. In 366 kurzen Empfehlungen stellt er für jeden Tag des Jahres ein anderes Buch vor. Dabei bezieht er sich mal auf das Datum, mal auf die Jahreszeit oder greift einfach ein spannendes Detail auf, das ihn mit dem jeweiligen Werk verbindet.

Die Mischung macht den besonderen Reiz dieses Buche aus: Hier finden sich Klassiker, ebenso wie literarische Entdeckungen, die aus dem Schatten geholt werden und neugierig machen. Gerade diese Mischung aus Bekanntem und Überraschendem sorgt dafür, dass man beim Lesen immer wieder inspiriert wird.

Für mich eignet sich das Buch hervorragend dazu, es mal am Stück zu lesen oder auch im Laufe des Jahres immer wieder in die Hand zu nehmen. Rainer Moritz versteht es kenntnisreich und mit Begeisterung über die vorgestellten Werke zu sprechen, sodass die Neugier geweckt ist und die Wunschliste der Leser wächst.

Das Jahr in Büchern ist ein ideales Geschenk für alle Bücherliebhaber – anregend, unterhaltsam und voller Inspiration. Ein Buch, das Freude macht und lange begleitet.

 Boyne, John - Wasser

  Mit Wasser eröffnet John Boyne seinen neuen Romanzyklus, der nach Elementen benannt ist und je einem unterschwellig gewidmet ist. Der Auftaktroman erzählt die Geschichte einer Frau Anfang fünfzig, die sich nach einem schrecklichen Einschnitt in ihrem Leben in die Abgeschiedenheit einer kleinen, abgelegenen Insel zurückzieht. Dublin und ihr vertrautes Umfeld hat sie hinter sich gelassen, um in der Einsamkeit Antworten auf die drängenden Fragen ihres Lebens zu finden.

Boyne zeichnet das Bild einer Protagonistin, die mit Schuld, Vergebung und der Suche nach ihrer eigenen Identität ringt. In der Auseinandersetzung mit der Vergangenheit und den Ereignissen, die sie in die Krise geführt haben, entfaltet sich eine intensive Innenschau. Der Roman überzeugt durch seine dichte, düstere Atmosphäre, die die innere Zerrissenheit der Hauptfigur spiegelt.

Wasser ist ein fesselnder, melancholischer und zugleich nachdenklicher Roman. Boyne gelingt es, die Leserinnen und Leser in den Bann einer existenziellen Lebenskrise zu ziehen und Themen wie Schuld, Vergebung und Selbstfindung literarisch packend zu gestalten. Ein starkes Buch, das nachhaltig beschäftigt und einen würdigen Auftakt für die geplante Reihe bildet. Atmosphärisch dicht, thematisch tiefgründig und literarisch überzeugend – sehr zu empfehlen!

Hindmarsh, Bruce/Borlase, Craig - Die Melodie der Gnade

   Bruce Hindmarsh’ Romanbiografie Die Melodie der Gnade bringt die Lebensgeschichte von John Newton eindrücklich nahe. Der Autor zeichnet kein Heldenbild, sondern zeigt einen zerrissenen, fehlbaren Menschen, dessen Wandel umso authentischer wirkt. Besonders beeindruckt die thematische Tiefe: Die Erfahrung der Gnade zieht sich wie eine leise, aber beständige Melodie durch das gesamte Buch. Der erzählerische Stil verbindet historische Genauigkeit mit literarischer Lebendigkeit – packend, emotional und nachhaltig bewegend. Zwar liegt der Schwerpunkt stark auf Newtons früher Seefahrtszeit, während spätere Abschnitte etwas kürzer geraten, doch insgesamt bleibt das Werk eine fesselnde Lektüre über Schuld, Umkehr und die transformative Kraft der Gnade

 February, Anna - The Hive – Wenn die Königin fällt

   Anna February entwirft in The Hive eine dystopische Welt, die zugleich faszinierend und beklemmend wirkt. Der Roman verbindet Elemente der Gesellschaftskritik mit einer spannungsvollen Ermittlungs-Handlung. Die Welt des Hive ist streng hierarchisch organisiert: An der Spitze stehen Könniginen und derer Kinder, während die Arbeiter einzig dazu bestimmt sind, deren Wohlergehen zu sichern.

Die Erde ist in einem desolaten Zustand, um die wenige Ressourcen zu schützen, braucht es eine strenge Ordnung im System.

Die Handlung setzt mit einem dramatischen Ereignis ein: Die Tochter einer Königin wird ermordet. Ihre Leibwächterin – im Roman „Schild“ genannt – überlebt als Einzige, was eigentlich als unmöglich gilt. Schilde sind von Geburt an darauf trainiert, die Mitglieder der königlichen Familie um jeden Preis zu beschützen und mit ihnen verbunden zu sein. Dass ein Schild den Tod der zu schützenden Person übersteht, ist ein Bruch mit allen Regeln dieser Gesellschaft – und wirft Fragen auf, die die Handlung antreiben. Als weitere Morde folgen, steigert sich die Spannung.

Besonders gelungen ist die detailreiche, komplexe Welt, die Anna February geschaffen hat. Die klare Struktur der Gesellschaft, die fast wie das Innenleben eines Uhrwerks funktioniert, verleiht der Geschichte Tiefe und Glaubwürdigkeit. Gleichzeitig bleibt die Handlung unvorhersehbar.

Allerdings neigt die Autorin dazu, Szenen und Aktionen sehr ausführlich auszumalen. Dieses Verweilen bei einzelnen Momenten verlangsamt den Lesefluss gelegentlich und lässt manche Passagen langatmiger wirken.

Insgesamt jedoch überzeugt The Hive durch seine originelle Welt, die Mischung aus Dystopie und Kriminalgeschichte. Ein empfehlenswertes Buch für alle, die komplexe Welten und dichte Handlungen schätzen.

 Perry, Rob - Der große Gary

Rob Perry erzählt in Der große Gary die bewegende Geschichte von Benjamin, einem jungen Mann, der in vielerlei Hinsicht ein Außenseiter ist. Geplagt von Phobien, Ängsten und einer fast lähmenden Unsicherheit, lebt er zurückgezogen in seiner kleinen Welt, die er vor allem durch seine Angst vor Keimen streng abgrenzt. Er gehört zu den Menschen, die man leicht vorschnell als „sonderbar“ oder „komisch“ bezeichnet, und doch ist er von einer tiefen Liebenswürdigkeit und Nachdenklichkeit geprägt.

Als plötzlich ein herrenloser Windhund in sein Leben tritt, verändert sich alles. Ausgerechnet ein Hund – etwas, das für Benjamin mit all seinen Ängsten eigentlich undenkbar ist – wird zu seinem engsten Vertrauten. Gary, wie das Tier genannt wird, sieht in Benjamin einen Freund, und diese gegenseitige Zuneigung wächst zu einer stillen, kraftvollen Verbindung.

Der Roman ist in seiner Grundstimmung melancholisch und von einer feinen Traurigkeit durchzogen. Und doch birgt er Hoffnung: Benjamin beginnt, seine Ängste zu überwinden, entdeckt neue Freundschaften und erkennt einen tieferen Sinn in seinem Leben. Perry gelingt es, mit poetischer Sprache eine Geschichte zu zeichnen, die leise und zugleich eindringlich von Menschlichkeit, Verletzlichkeit und dem Bedürfnis nach Nähe erzählt.

Das Ende bleibt offen – bewusst unsicher, fast wie ein unausgesprochenes Versprechen. Diese Offenheit lädt die Lesenden ein, die Geschichte in Gedanken weiterzuspinnen, und macht den Roman zu einem umso stärkeren Leseerlebnis.

 Teige, Trude - Und Großvater atmete mit den Wellen

In ihrem Fortsetzungsroman Und Großvater atmete mit den Wellen widmet sich Trude Teige der Geschichte von Konrad, der im Zweiten Weltkrieg bei der Marine diente und in Gefangenschaft geraten ist. Seine Erlebnisse, seine Ängste und seine Narben werden in diesem Band sichtbar gemacht – nachgezeichnet von seiner Enkelin, die sich auf die Spurensuche begibt.

Besonders hervorzuheben ist die gründliche Recherche, die spürbar in jede Seite eingeflossen ist. Teige gelingt es, historische Fakten und individuelle Schicksale zu verweben, sodass die Geschichte authentisch und gleichzeitig zutiefst bewegend wirkt. Die Verknüpfungen zum ersten Roman, die sich gegen Ende des Buches zeigen lassen die Familiengeschichte in einem noch dichteren Zusammenhang erscheinen.

Das Buch ist tragisch, aufwühlend und von großer Bedeutung. Es erinnert eindringlich daran, wie wichtig das Erinnern ist, und bewahrt ein Stück Geschichte in literarischer Form.

Ein zutiefst beeindruckender und sehr empfehlenswerter Roman, der lange nachhallt.